Endlich komme ich mal dazu, die erste Zeit meiner Reise zu rekapitulieren. Auch wenn mich mein infektiöses Ich dafür erstmal in die Knie zwingen musste. Ich bin aktuell in Königstein an der Elbe und circa 12km von der tschechischen Grenze entfernt. Hier begehe ich heute meine dritte Nacht in Folge auf einem viel zu teuren und sehr komplizierten Campingplatz. Viele Schlüssel, Magnetkarten und Guthabenkarten machen einem hier das Leben schwer. Konnte ja keiner ahnen, dass ich ausgerechnet hier strande. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein plötzlicher Lebenswandel an diesem Zustand schuld ist. Oder es war doch die ignorierte Rückruf-Aktion der Ferrero Kinderschokolade.
Ich habe wie ein Berserker von null auf hundert in die Pedale getreten und bin in den ersten sechs Tagen knapp 350km gefahren. Zwei Tage davon mit viel zu viel Gepäck. Das ist bestimmt keine Meisterleistung, andere fahren mehr und schneller. Aber ich fahre sonst sehr selten Fahrrad und bin dahingehend völlig untrainiert gestartet. Hinzu kommt, dass ich erstens zu wenig und zweitens viel zu mieses Zeug gegessen habe. Dann habe ich meine Regenerationsphasen auch noch mit meinem Lieblingsgetränk Bier garniert und schon ist der Körper ruiniert. Das ich dem dann als Wiedergutmachung gestern ne halbe Obstplantage reingedrückt habe, hat ihm glaube ich endgültig den Rest gegeben.
Am ersten Abend gab es sahnige Nudeln, am zweiten einen leckeren Nudelauflauf, am dritten den Rest vom Nudelauflauf und am vierten ein fettes Zwiebelschnitzel. Der fünfte Tag überraschte mich mit einer Grilleinladung und am sechsten gab es ein Holsteiner Schnitzel mit sechs(!) Spiegeleiern und Pommes. Davon kann kein Mensch gesund werden. Das ändert sich jetzt. Ich will weniger Fleisch essen und mehr frisches, gesundes Zeug. Ich brauche meinen Körper ganz dringend. Das wird mir so langsam klar.
Der erste Tag meiner Reise sollte eigentlich der 4.4. sein. Aber da ich am Wochenende meine fulminant-eskalative Abschiedsparty beging und Sonntag in den Seilen hing, hat das nicht geklappt. Ich musste ja noch meine Sachen packen. Das habe ich bis dato ziemlich vernachlässigt. Ja und dann war es der 5.4.. Und auch an jenem Tag wollte es nicht so recht flutschen. Der Abschied hing über uns wie eine graue Wolke und auch das Wetter war bescheiden. Meistens, wenn solche Situationen drohen, gibt es schlechte Stimmung. So auch bei uns. Es war wirklich schlimm für mich und meine Frau. Sie bleibt zurück mit Hof und Tieren und ich weiß auch nicht so recht wie ich mich mit meiner Idee fühle. Mir war klar, dass der Anfang schwer wird. Deshalb marschier´ ich da einfach durch, hab ich mir gesagt. Irgendwann wird es besser.
Nun ja. Jetzt war es schon Nachmittags und ich wäre keinen Meter mehr vorangekommen, wenn ich nicht die ersten 20km gebracht worden wäre.
So konnte ich mein erklärtes Ziel am ersten Tag noch erreichen. Es regnete in Strömen und ich war klitschenass. Eigentlich wollte ich mein Zelt aufbauen, aber habe dann doch nach einem Zimmer gefragt. „Eigentlich meldet man sich dann ja mal vorher an“, war die Antwort der Dame, als ich die Telefonnummer gewählt habe, die am Haus stand. „Macht man ja offensichtlich nicht“, dachte ich. „Und eigentlich schimpft man nicht als erstes mit seinem Gast“. Ich reagiere immer ziemlich allergisch auf so selbst ausgedachte Verhaltensregeln anderer. Ich habe ja nur gefragt, ob ich ein Zimmer haben kann. Egal. Ich war der einzige Gast. Hinter mir schloss man die Türen wieder ab und bot mir an, durch die Kellertür rein und raus zu gehen. Damit war ich ok. Schließlich konnte ich meine Klamotten trocknen und hatte ein warmes Bett. Wider Erwarten spukte es nachts nicht.
Seit diesem Abend aber, war die erste Woche gespickt mit zauberhaften, zwischenmenschlichen Begegnungen.
So viel erlebt habe ich lange nicht mehr. Normalerweise bin ich eher der Misanthrop und kann mit Menschen nicht so viel anfangen. Sie sind mir oft zu kompliziert und es fällt mir gelegentlich schwer Emotionen und Stimmungen zu lesen. Und ich habe bis auf meine Frau, oft ganz und gar kein Bedürfnis, Menschen um mich herum zu haben. Doch wenn man den ganzen Tag ins Ungewisse radelt, dann gibt es nichts schöneres, als Gastfreundschaft zu erleben. Und es ist das, was ich hier in der aktuellen Situation – krank auf dem Campingplatz – gerade schmerzlich vermisse. Wenn ich eins begriffen habe, dann das: „Menschen sind die beste Medizin“...
Die Spontaneinladung von Jörg, der mich in Uthmöden aus seinem Auto heraus anhielt, war schonmal ein genialer Start.
Als ich am zweiten Abend bei Familie B. in Rottmersleben einkehrte, bin ich mit so viel Gastfreundschaft überschüttet worden, dass ich es kaum glauben konnte. Alles hat man mir gegeben. Abendessen, Bett, Dusche, Frühstück, Bier...und dann auch noch Udi, den süßesten Hund. Dazu nette Gespräche und einen witzigen Abend. Manchmal wäre ich auch gerne so. Konstant offen gegenüber der Menschheit. Da war am nächsten Tag das Wetter auch völlig egal.
In letzter Sekunde habe ich am nächsten Tag kurz vor Magdeburg dann noch Glück gehabt und es hat sich einer auf meine zahlreichen Warmshowers*-Anfragen gemeldet. Er meinte seine Bude wäre überhaupt nicht besuchbar, aber wenn ich keine Ansprüche hätte, dann könnte ich einkehren. Ich hatte keine Ansprüche, bis auf ein Dach über dem Kopf. Das Wetter war wirklich aberwitzig und ich war mal wieder völlig durchnässt.
Es war sehr nett, aber auch ein bisschen witzig. Bevor ich mich neben seinem Bett zum Schlafen legte, striff ich noch ein wenig durch Magdeburg, traf Samuel, der gerne ein paar Portraits von mir schießen wollte und trank noch ein...Bier. Anschließend war ich wohl in der richtigen Stimmung und Roland (wie ich meinen Host aus datenschutz-technischen Gründen nennen möchte) und ich hatten Redefluss. Er erzählte mir, dass er seine Jahresterminplanung fast abgeschlossen hätte. Sie war unter anderem der Grund, warum wir nicht zu zweit ausgegangen sind. Es erschlossen sich ihm aufgrund verschiedener Termin- und Anlasskombinationen 256 Entscheidungsmöglichkeiten, die er an diesem Tag erfolgreich auf 68 herunterbrechen konnte. Es faszinierte mich, wie jemand seine anstehenden Entscheidungen mit Hilfe einer Excel-Tabelle ausrechnen konnte. Das würde ich auch gern mal können. Ich treffe meine Entscheidungen selten überlegt, sondern meistens aus dem Bauch heraus – deshalb fahre ich auf Fahrradreise. Klang irgendwie nach einem guten Abenteuer. Durchdacht ist da nicht viel, falls das jemand glaubt. Wir unterhielten uns über die Parameter, die seine Entscheidungen beeinflussen und wenig später schlief ich ein.
Am nächsten Tag hatte ich wieder ein Warmshowers-Bett bei Anne und ihrem Vater in Dessau. Wir haben den ganzen Abend gequatscht und ich konnte sogar ein eigenes Zimmer beziehen. Und dann waren da Lotte & Nelson. Hund und Katze in trauter Zweisamkeit. Sowas niedliches schon wieder. Der Abend endete in der „Oberbreite“. Hier gab es das ungesunde Zwiebelschnitzel zu essen und...Bier. Reichlich angedattert bin ich selig weggedöst und wurde am nächsten Morgen wieder mit einem Frühstück begrüßt. Anne beherbergt schon seit mehreren Jahren Fahrradreisende. Wenn man sich ein bißchen mit der Materie beschäftigt, dann kennt man die ein oder anderen auch aus den sozialen Medien. Nun bin ich auch auf ihrer Pinnwand verewigt und ein wenig stolz darauf.
Nach zwei solchen herzerwärmenden Abenden, freute ich mich auf die Fahrt nach Torgau. Hier wollte ich eigentlich ein günstiges Zimmer beziehen und mich an die Arbeit zu meinem ersten Fahrradreise-Video machen. War aber alles teuer. Selbst die Jugendherberge erwartete eine Anmeldung. Was die immer haben mit ihrem vorher melden. Einfach so hinfahren geht nicht. Damit bringt man einige Menschen hier in große Schwierigkeiten. Dann bin ich eben zum Campingplatz gefahren, von dem ich dachte, er sei noch geschlossen. Da hätte ich mich dann einfach hingestellt. Stört bestimmt keinen, dachte ich. Stattdessen wurde ich bereits davor mit lautem Applaus empfangen. Der Grund dafür war, dass ich der erste Fahrradfahrer der Saison war. Ich bekam also wieder das komplette Programm. Der Campingplatz in Torgau hat neue Besitzer, die eifrig damit zu tun hatten, den Platz wieder besucherfähig zu machen. Eröffnung war erst drei Tage später. Deswegen saßen wir in trauter Runde bei Grill und Bier und Feuer. Man schenkte mir einen kostenlosen Aufenthalt in der Radlerhütte. Wieder ein Bett, wieder Abendessen, wieder Bier, wieder Frühstück.
Diesmal habe ich mich mit Musik bedankt und habe am Lagerfeuer noch ein bisschen Gitarre gespielt. Währenddessen denke ich immer wieder an meinen Großeinkauf, den ich schon seit Tagen mit meinem Fahrrad umherfahre und ihn wegen ständiger Einladungen noch nicht angerührt habe. Das Gemüse verabschiedet sich langsam und auch die Bananen werden braun.
An diesem Abend habe ich mich gefragt, wo man die ganze Liebe hinpackt und wie füllhornesk das Leben sein kann, wenn alle immer nach der Prämisse lebten, dem oder der Anderen die jeweils schönstmögliche Zeit zu machen.
Am nächsten Morgen ging es dann nach Meißen, wo ich mich zwei Nächte einquartiert habe. Den Schlüssel für die Radlerhütte in Torgau hatte ich noch in meiner Tasche, wie mir 80km später auffiel. Super, Jan! Aber der Campingplatz und ich sind uns einig geworden, dass ich den Schlüssel mit auf meine Reise nehme und anschließend wieder zurückbringe. An einem sonnigen Wochenende.
Aus zwei Meißener Nächten wurden drei, weil ich schnell gemerkt habe, dass mein Körper ganz dringend eine Pause braucht. Das einzige was zu kurz kam, war allerdings Schlaf. Ich war so beschäftigt, ein adäquates Fahrradreise-Video hinzubekommen, dass Schlaf wirklich nur dann dran war, wenn ich schon nicht mehr konnte. Das muss sich alles ändern. Ich muss mein Tempo finden und ganz dringend das Tempo was ich habe, ablegen.
Obwohl Meißen eine schöne Stadt ist und dort viele Menschen verkehren, habe ich mich nach den letzten Tagen doch sehr einsam gefühlt. Es ist einfach was anderes mit einer offensichtlichen Geschichte – meiner Reise – durch die Lande zu fahren und auf interessierte Menschen zu stoßen, oder als einer von Vielen durch die Stadt zu spazieren. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die Menschen auf Fragen außerhalb der Norm, mit schwitzenden Händen und leichter Empörung reagieren. Als würde ich sonstwas erwarten. Dabei handelte es sich meist um einfache „Ja“- oder „Nein“-Fragen. Ich würde das nicht erwähnen, wenn es mir nicht seit Meißen konstant so ginge. Es gibt sicherlich einen Schlüssel zum sächsischen Herz, aber den habe ich noch nicht gefunden. Das ist ein gravierender Teil der Reise nehme ich an. Die Unterschiede in der Mentalität zu akzeptieren und flexibel darauf zu reagieren. Die Dinge einfach nicht persönlich zu nehmen.
Ihr seht es an den Augen. Mit dem Spruch habe ich in meinem ersten Fahrradreise-Video die neueste Gruselhaus-entdeckung angekündigt.
Doch was ihr noch in meinen Augen seht, ist Begeisterung und Glück.
Ich habe viel gelernt in den ersten Tagen meiner Fahrradreise.
Viel über meine körperlichen Grenzen, meine Bedürfnisse, viel über Menschen und über die zwischenmenschliche Liebe.
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Moin Jan, interessante und unterhaltsame Einblicke in Deine Reiseerlebnisse. Wir wünschen Dir jeden Tag herzerwärmende Begegnunge. Frohe Ostern und pass auf Dich auf.